Willst du die rote oder die blaue Pille?
Ich kann mich noch gut an einen meiner ersten Workshops in einer 12. Klasse vor ein paar Jahren erinnern. Es ging an diesem warmen Sommertag um die Themen Persönlichkeitsentwicklung und Selbstführung. Am Ende der Veranstaltung bat ich die Jugendlichen, ihre Beteiligung und Mitarbeit am Training auf einer Skala von 1 bis 10 zu bewerten. Sie gaben sich 3 Punkte. Was auch immer sie sich unter einer Beteiligung von 10 vorgestellt hatten – sie hatten das nicht gemacht. Als ich mir das Ergebnis ansah, passierte etwas Interessantes: Mein Kopf erfand sofort ein paar großartige Geschichten. Meine innere Stimme flüsterte: ‚Na ist doch klar, es war heute viel zu warm, um als 10 teilzunehmen!‘, ‚Es war halt eine schwierige Gruppe‘, ‚Na ja, eine 3 ist besser als eine 2‘, und das Highlight: ‚Es liegt halt an der Schule. Keiner mag Schule.‘
In dem Moment bemerkte ich, dass ich – wohl schon seit einer ganzen Weile – das berühmte Spiel „Ich bin das Opfer“ spielte. Ich fühlte und benahm mich wie eins. Das Spiel macht echt süchtig! Ein Opfer zu sein war so attraktiv für mich, weil alle Erklärungen, die mir in den Sinn kamen, ein bisschen Wahrheit in sich hatten. Eine drei ist tatsächlich besser als eine zwei und es war auch wirklich ziemlich heiß an dem Tag. Das sind belegbare Einschätzungen, aber sie halfen mir nicht, weil ich sie in Entschuldigungen umgewandelt hatte, Ausreden für MEINEN Anteil am Endergebnis.
„Du hast entweder deine Geschichten oder die Ergebnisse, die du willst – aber du kannst nicht beides haben.“ Marcus Marsden
Ich wusste: Wenn ich dieses Spiel weiterspielte, würde ich vor der Verantwortung für alles, besonders für die Ergebnisse meiner Arbeit, zurückschrecken.
Mir war auch klar: Wenn ich so weitermachte, würde ich als Trainer, Coach und Mensch nicht wachsen. Ich würde mir den Blick auf meine Fähigkeit verbauen, mich über meine Umstände hinaus zu verbessern. Ich musste aufhören, mir Geschichten, Ausreden und Gründe auszudenken, warum die Teilnehmer in meinem Workshop nicht mit einer 10 teilgenommen hatten, denn sonst hätte ich mich von den Umständen leiten lassen und nicht umgekehrt. Das wäre eine unproduktive, hilflose und stagnierende Art zu leben.
John Maxwell hat mal gesagt: „Führung ist Einfluss nehmen, nicht mehr und nicht weniger.“
Mit diesem Blick auf Führung musste ich mich der harten Realität stellen, dass das Level meines Einflusses während dieser Workshops nur eine 3 von 10 war. Dies war eine wichtige Information über meine Fähigkeit zu führen.
Mein Ergebnis bedeutete nicht, dass ich ein schlechter Mensch oder nicht gut genug bin. Es ist eine objektive Reflexion, die zeigt, dass die Art und Weise, wie ich versucht habe, mit der Gruppe vor mir in Kontakt zu treten, zu einem Ergebnis von drei von zehn Punkten führte. Es ist nur eine Information. Aber was ich mit dieser Information mache, entscheidet darüber, ob ich mich als Führungskraft verbessere. Ignoriere ich sie einfach? Oder nutze ich sie als Leitfaden auf dem Weg dahin, irgendwann eine Zehn zu erreichen? Um das zu tun, kann ich nicht Opfer spielen – ich würde mich nur sinnlos im Kreis bewegen. Stattdessen muss ich Verantwortung übernehmen. Wenn ich ein Drei-von-Zehn-Ergebnis geschafft habe, kann ich auch ein Zehn-von-Zehn-Ergebnis schaffen. Indem ich Verantwortung übernehme, werde ich vom Opfer zum Gestalter, vom Beobachter zum Akteur.
Was können wir von Matrix lernen?
Wie sieht Verantwortung denn nun praktisch aus? Um Morpheus zu zitieren:
“Ich kann es nicht mit Worten erklären. Du musst es selbst erleben.” (1999, Matrix)
Damit kann ich Ihnen also nicht helfen, Sie selbst müssen aktiv werden. Ich kann Ihnen aber eine neue Perspektive aufzeigen, indem ich Ihnen von jemandem erzähle, der einen krassen Wandel vollzogen hat, dem sich alle unterziehen müssen, die ein erfülltes Leben führen wollen. Es wäre hilfreich, wenn Sie die Matrix-Filme kennen, aber wenn nicht, lesen Sie doch bitte erst einmal weiter, bevor Sie sie sich ansehen.
Im Film muss sich Thomas Anderson zwischen zwei Pillen entscheiden – einer roten und einer blauen. Die blaue Pille würde es ihm ermöglichen, in sein normales Leben und seinen Bürojob zurückzukehren. Die rote Pille hingegen würde ihn, wie Alice, in den Kaninchenbau führen, an einen Ort, der weit über seine kühnsten Vorstellungen hinausging – ein Wunderland der anderen Art. Dieser Moment der Entscheidung war wahrscheinlich das erste Mal, dass er aktiv Verantwortung für sein eigenes Leben übernahm. Es war wahrscheinlich auch das erste Mal, dass er ahnte, dass dieses seltsame Gefühl, das er hatte – nämlich, dass seine Existenz mehr bedeuten könnte, als nur einen Bürostuhl in irgendeiner Softwarefirma zu wärmen – wahr sein könnte.
Was dann folgte, war hart für ihn, aber die Erkenntnis, dass die Welt, die er sich ausgedacht hatte (oder die für ihn ausgedacht worden war), weit von der Wahrheit entfernt war, war das Beste, was ihm je passiert ist. Mit der Verantwortung kamen Ehrlichkeit und ein geschärftes Bewusstsein, was zu anderen Entscheidungen und Handlungen führte und ihn schließlich zu einem Anführer unter den Menschen machte.
All die Geschichten und Gründe, warum das Leben so ist, wie es ist, sind meistens nur erfunden. Verantwortlich zu sein hat dabei übrigens nichts damit zu tun, die Schuld für eine Situation auf sich zu nehmen. Das wäre im Fall von Mr. Anderson ohnehin Unsinn gewesen. Stattdessen erlaubte ihm die Verantwortung zu erkennen, wer er ist und wo er steht. Dies war die Grundlage dafür, für eine Sache einzutreten, um zu einem besseren Ganzen beizutragen.
Ja, dies ist ein extremes und auch nur fiktives Beispiel, da es hier um das Überleben der menschlichen Rasse gegenüber den Maschinen ging, aber die Prinzipien dahinter sind die gleichen wie im realen Leben.
Haben Sie jemals diese innere Stimme gehört, die Ihnen immer wieder sagt, dass es da noch mehr gibt? Dass es eine Sache geben muss, für die Ihr Herz schlägt? Auch in Ihnen schlummert ein riesiges Potenzial, das nur darauf wartet, geweckt und ernst genommen zu werden.
Während seiner Ausbildung zu Neo (seiner wahren Identität) lernt Mr. Anderson, an sich selbst zu glauben. Zumindest konnte er sehen, dass die Menschen um ihn herum an ihn glaubten. Manchmal ist es genau das, was nötig ist, um den Funken in uns zu entfachen.
Man kann diese zwei verschiedenen Versionen von ihm als die Opfer-Version (Mr. Anderson) und die verantwortungsbewusste Version (Neo) sehen. Ich habe diese beiden Versionen sicherlich auch in mir. Letzten Endes geht es darum, welche Seite man mehr trainiert, welcher Stimme ich mich entscheide zu folgen. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass wir trotz Training immer mal wieder hinfallen.
Ja, auch Neo ist gefallen. Er fiel weit und er fiel hart, sogar von einem Wolkenkratzer. Die ersten paar Schritte sind nie leicht. “Niemand schafft den ersten Sprung“, sagt ein Crewmitglied, als Neo eine Simulation durchläuft. Und es stimmt: Verantwortung zu übernehmen und einen Schritt nach vorne zu machen, ist immer mit dem Risiko verbunden zu fallen. Und so fallen wir. Wenn wir Glück haben, gibt es Menschen oder ein Team um uns herum, das uns auffängt oder uns wieder aufhilft. Wenn nicht, könnte das Fehlen von Menschen um uns herum eine weitere ganz tolle Ausreden-Geschichte für das Opfer-Spiel sein.
Aber wir alle haben diese leise innere Stimme, die die Opfer-Geschichten durchbricht und uns sagt, dass wir wieder aufstehen und weitermachen sollen. Sobald wir anfangen, auf sie zu hören, wird sie langsam lauter und gibt uns die Kraft, es weiter zu versuchen und diese Zukunft voller Möglichkeiten zu entdecken. Die Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert werden, mögen wachsen, und die Kämpfe, die wir ausfechten, mögen härter werden, aber das ist das Training, das wir brauchen, um neue Gewohnheiten zu etablieren, ein neues Selbstbild zu entwickeln und an den Punkt zu gelangen, an dem wir sagen können: „Mein Name ist … Neo“.
Wie findest du deinen echten Namen?
Verantwortung zu übernehmen, bringt Freiheit, denn es liegt Macht darin zu wissen, wer man ist. Zu erkennen, wo man steht. Zu sehen, dass man für die Menschen um einen herum wertvoll ist. Zu entscheiden, der leisen Stimme in unserem Herzen zu vertrauen und das Leben zu erschaffen, das man leben möchte.
Wenn Sie aktuell drei von zehn Punkten oder ein anderes Ergebnis erhalten, über das Sie sich ärgern, nehmen Sie diese Information dankbar an und wachsen Sie daran. Nehmen Sie Änderungen vor, treffen Sie andere Entscheidungen, ergreifen Sie Maßnahmen, die Sie allmählich zu zehn von zehn Punkten führen, und scheuen Sie sich nicht, auf dem Weg dorthin weitere Informationen einzuholen, um auf dem richtigen Weg hin zu der Person zu bleiben, die Sie schon immer sein wollten.
Das ist jedenfalls meine Art, damit umzugehen und nach ungefähr 150 Wiederholungen, des gleichen Workshops und einem kontinuierlichen einholen von Informationen, bin ich heute immer besser als acht von zehn. Selbstführung zahlt sich aus.
Ich kann Ihnen nicht erklären, wie Verantwortung übernehmen in Ihrer spezifischen Situation aussehen würde. Aber wenn Sie sich trauen, sie zu übernehmen, werden Sie es wissen. Ihr Leben wird sich verändern und damit auch Ihre Ergebnisse.
Viel Spaß beim Wachsen.
Danke fürs Lesen.
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Über den Autor: Sebastian Schick ist professionell zertifizierter Coach (PCC) bei der International Coach Federation (ICF) und der European Association for Supervision and Coaching (EASC). Außerdem ist er ein Newfield Certified Coach (NCC) durch The Coach Partnership. Sebastian verbindet die Kunst und Wissenschaft von Führung und mit über zehn Jahren Erfahrung in Online- und Offline-Coaching, hat er Ergebnisse, die das bestätigen.
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